Beim McLaren 720S ist der Unterschied zwischen Saug- und Turbomotor aufgrund der Verzögerung der Kraftentfaltung kaum mehr spürbar und wenn die beiden Beatmungen einmal zugebissen haben, gibt es sowieso kein Entrinnen mehr. Dabei ist das Doppelkupplungsgetriebe aus dem Hause Graziano gut, aber nicht derart beindruckend, wie es sein könnte. Hier arbeiten Systeme in Ferrari, BMW, Porsche oder Lamborghini insbesondere im Komfortbereich besser, wenn die einzelnen Gänge nicht unter voller Drehzahl in die nächste Stufe geprügelt werden. Doch was für 650S oder 675LT galt, ist auch eine Paradedisziplin des neuesten McLaren 720S. Er ist angesichts seiner spektakulären Leistungsdaten, bis zu 341 km/h Höchstgeschwindigkeit und spektakulärer Verzögerungswerte ein Supersportler; aber einer, mit dem man tatsächlich jeden Tag ins Büro fahren kann. Das liegt nur nebensächlich an dem Liftsystem der Vorderachse, das einem die Zufahrt in unwegsame Garagen oder über Verkehrshindernisse ermöglicht und es ist auch nicht die deutlich bessere Rundumsicht, die der 720er im Vergleich zu seinem Vorgänger bietet. Mit den kuppelartig ausgeführten Glaselementen an hinteren Säulen, Rückscheibe und Türen haben es die Briten etwas zu gut mit der Sonneneinstrahlung gemeint. So viel Glas braucht in Zeiten von Kameras rundherum nach hinten keiner und die beiden gläsernen Dachfenster nerven mehr als sie bringen. Gut, dass diese nur auf Wunsch in "Gorillaglas" angeführt werden.
250.000 Euro
"Uns war die Arbeit an der perfekten Aerodynamik besonders wichtig", so Produktmanager Ian Howshall, "wir haben hier 2013 mit dem 650S angefangen und konnte uns hier deutlich verbessern. Wir haben nun 30 Prozent mehr Anpressdruck." Kein Wunder, dass jede Runde auf der Rennstrecke zu einem wahren Lustgefühl ausartet. Noch spektakulärer als die atemberaubende Beschleunigung bleibt das stoisch ruhige Einlenkverhalten und eine Bremse, die keine Verzögerungsgrenzen zu kennen scheint. So werden nicht nur die vier Räder über mächtige Karbon-Keramikscheiben verzögert, sondern bei einem Tritt auf die Bremse reckt sich auch der Heckspoiler steil in die Höhe und sorgt für Ruhe in der Karosserie. Aus Tempo 100 steht der Renner in knapp 30 Metern und selbst aus Tempo 200 fällt der Anker bei 117 Metern.
Der mindestens 247.250 Euro teure McLaren überzeugt keinesfalls nur auf der Rennstrecke mit seinem grandiosen Einlenkverhalten, dem phantastisch drehfreudigen V8-Doppelturbo oder der Leichtigkeit, mit der der gut 1,4 Tonnen schwere Brite die opulente Motorleistung auf den Asphalt bannt. Trotz der steifen Karbonkarosserie und der zahllosen Aerodynamikmaßnahmen, die ihn bei höheren Tempi souveräner denn je machen, verzückt die Leichtigkeit, mit der es durch die Stadt oder eben über Verbindungs- und Landstraßen geht. Natürlich macht die Schar der Zuschauer am Straßenrand auch dann große Augen, wenn der optionale Sportauspuff nicht verbaut und die Koloration dezenter als die Sonderlackierung "Azores" für und 4.000 Euro ist. Trotzdem ist der McLaren 720S nichts für einen unscheinbaren Auftritt in der zweiten Reihe. Aber gerade der, der sich eben bewusst gegen Schalensitze, Sportauspuff oder die sichtbare Karbonstruktur entscheidet, genießt es auf der Rennstrecke rasen zu können und sein Shirt auf dem Weg ins Büro nicht zwangsläufig durchschwitzen zu müssen.
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- Veröffentlicht: 02. Mai 2017