So richtig schweißtreibend wird es aber zum ersten Mal während der Ankleidung. Unterwäsche, Rennanzug, Schuhe, Handschuhe, Ohrstöpsel mit integrierten Lautsprechern, die Sturmhaube mit dem netten Namen Balaklava sowie Helm inklusive HANS-System wirken nicht nur kuschelig warm. Sie sind es auch. Nur gut, dass nahezu alles feuerfest ist. Wieder im M6 GT3 Platz genommen, ertönt das Kommando "Raus!" Maximal sieben Sekunden darf eine Notevakuierung dauern. Wer jetzt glaubt, dass er in sieben Sekunden normalerweise ein- und auch wieder aussteigen würde, der hat noch nie in einem Rennwagen gesessen. Die ungefähre Reihenfolge, die zum erfolgreichen und auch schnellen Ausstieg führt lautet: Funksprech-Kabel abziehen, Armauffang-Netz ausklinken Gurt lösen, im Zweifel das Lenkrad abziehen, auf den roten Tür-Auf-Buzzer kloppen, irgendwie raus aus dem Karren und vorn neben der Motorhaube aufstellen. Wer diese Reihenfolge flott liest, braucht dafür in etwa genauso lange wie ein Rennfahrer für ihre Ausführung. Danach heißt es: alles wieder auf Anfang.
Der Physik vertauen
Die Startprozedur eines GT3-Fahrzeugs ist sowohl in der Theorie als auch in ihrer Praxis ein Kinderspiel. Zwei Kippschalter und ein Druck auf den Serien-Knopf später und der Münchener erwacht aus seinem Tiefschlaf. So einfach die Erweckung auch ist, so schwer ist für ungeübte Piloten das Einlegen des ersten Gangs. Nach drei, vier oder mehr lautstarken Motor-Verendungen ist er drin. Was auf den ersten Metern bereits auffällt, ist die Tatsache, dass einem GT3-Fahrzeug Geschwindigkeiten unter 60 Kilometern pro Stunde nicht zu liegen scheinen. Holpernd und rotzend geht es auf die Strecke. Doch was dann folgt, ist pure Kraftentfaltung. Ob Beschleunigen oder Verzögern, der BMW M6 GT3 beherrscht alle Disziplinen. Nach nur wenigen Gangwechseln schießen einem die Tipps von Rennfahrer Lucas Luhr durch den Kopf: "Versuch gar nicht erst den Schaltpunkt zu antizipieren. Schalte, wenn die LEDs blinken." Recht hat er. Durch den Rennhelm und die Ohrstöpsel wirkt die Geräuschkulisse so gedämpft, dass die jahrelange Pkw-Erfahrung einfach ad acta gelegt werden kann. Ein Rennauto zu fahren, heißt der Technik zu vertrauen. Und der Physik, wie sich nach den ersten Runden und der darauf folgenden Datenanalyse zeigt.
"Du hast am Ende der Start-Ziel-Geraden 50 Meter früher als Lucas gebremst. Oder anders formuliert: Lucas fährt 50 Meter länger Vollgas. Und die lange Links fährt Lucas im vierten Gang voll. Da bist Du im Dritten. Denk dran, Du hast es hier mit einem Abtriebsauto zu tun. Der hält Dich schon am Boden." Tja, das ist mal Physik-Stoff, der hängen bleibt. Und so geht es zum zweiten Mal raus auf die Strecke. Während der imaginäre Engel auf der linken Schulter zur Vorsicht rät, scheint das Teufelchen an der rechten Schaltwippe zu ziehen und den vierten Gang zu fordern. Mit dem Gefühl "das war die letzte Linkskurve Deines Lebens" presst sich der BMW mit fast 200 Sachen an den Asphalt. Eindrucksvoller kann kein Physikunterricht der Welt sein. Doch es wird noch besser. Nach der langen Start-Ziel wird der aus Tempo 230 gefühlt eine Wagenlänge vor der scharfen Rechtskurve erst der Anker geworfen. Denn was die Physik und der BMW bei Lucas Luhr zulassen, müsste doch eigentlich auch bei einem Anfänger klappen. Und tatsächlich: Mit dem Gefühl das Bremspedal durch die markanten Nieren des 4,94 Meter langen Boliden zu treten, verzögert er so brachial, dass die Augen für einen kurzen Augenblick Kontakt mit dem Visier des Helms aufnehmen wollen. Bemerkenswert ist dabei, dass das ABS den Wagen so ruhig und in der Spur hält, als wäre das Bremsmanöver von einem Kleinkind eingeleitet worden.
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- Geschrieben von marcel-sommer
- Veröffentlicht: 09. Juni 2016